In Birthälm gab es einst elf Nachbarschaften. In den 80er Jahren reduzierten sie sich bereits auf acht: 1996 löste sich die letzte Nachbarschaft auf. Im Pfarrhaus in Birthälm sind einige der Nachbarladen mitsamt Inhalt aufgehoben: Bücher mit Sittags-Protokollen von 1860 bis 1996, den Statuten, alten "Straflisten", die minutiös aufführen, wer bei welcher Nachbarschaftsaktion unentschuldigt fehlte oder sich nur verspätete; lederne Geldsäcken, in die das Strafgeld eingezahlt wurde und natürlich die Nachbarzeichen. Die Nachbarladen geben einen guten Einblick in die feste Ordnung, die die Nachbarschaft hatte und die sie bis zur Auswanderung aufrechterhielt.
Protokoll-Buch und Nachbarzeichen der Salzgässer Nachbarschaft in Birthälm
Jeder im Ort war verpflichtet, der Nachbarschaft beizutreten, sobald er heiratete. Einmal in die Nachbarschaft "eingegrüßt", wofür man einen Korb voll Krapfen und fünf Liter Wein "bezahlte", hatte man ein Leben lang feste Rechte und Pflichten. Es war einem Hilfe verbürgt für Hausbau, für Notfälle, für die Versorgung im Krankheitsfall und schließlich für ein fest genormtes Begräbnis. Dafür war man andererseits verpflichtet, diese Hilfe auch zu leisten: Männer zwischen 16 und 70 mussten sich den Anweisungen des Nachbarvaters fügen. Mindestens vier Arbeitstage war man verpflichtet zu leisten im Kalenderjahr. Dazu gab es die Pflicht, der Reihe nach das "Grab zu machen", also das Grab auszuheben. Zum Begräbnis musste jeder erscheinen.
Aus einer der Nachbarschaften, der "Salzgässer Nachbarschaft" sind besonders viele Unterlagen erhalten. Neben den Protokollbüchern gibt es die Mitgliederlisten, die Nachbarzeichen und Hunderte von Mitteilungszetteln, die mit den Nachbarzeichen durch die Straße von Nachbar zu Nachbar gereicht wurde: Mitteilungen über Gottesdienste, Feiern, Hilfs- und Putzaktionen und Begräbnisse.
Die Protokolle der Sittage sind teils kurz und bündig, teils mehrere Seiten lang, manche sind von Gedichten unterbrochen - je nach Temperament und Talent des Schriftführers. Das war das Egalitäre der Nachbarschaft. Es kam jeder einmal an die Reihe, die Ämter auszuüben. Als Nachbarvater musste jeder ein Vorbild abgeben und "Führungsqualitäten" lernen. Jeder hatte seinen Platz im Gefüge. Wie schwer es war, das Gefüge gefügig zu halten, lässt sich an den vielen Strafzahlungen ablesen. Es fand auch nicht jeder seinen Platz, gelegentlich finden sich Ausschlüsse in den Unterlagen. Aber der Druck der Gemeinschaft hielt doch alles in Ordnung, bis zur Auswanderung. Da verschwanden fast alle Nachbarn, auch der damalige Birthälmer Pfarrer, Ortwin Plattner. Seine Abschiedsmitteilung wurde noch mit dem Nachbarzeichen herumgereicht und lautete so:
(September 2010, Julia Jürgens)