Der Sitt-Tag
Bis 1990 hielten die Nachbarschaften in Reichesdorf ihren Sitt-Tag am Marientag, am 2. Februar ab, (man sagte auch, man „hielt Nachbarschaft“.) Dieses Nachbarschaftsfest, das im Haus des jeweiligen Nachbarvaters stattfand, wurde von den Reichesdorfern als ein festlicher Höhepunkt des Jahres betrachtet. Es dauerte bis zu drei Tagen: Am ersten Tag wurde „Gericht gehalten“, danach bis zum Morgen gefeiert. Am zweiten Tag gab es ein gemeinsames Mittagessen und dann wieder eine fröhliche Feier, die die ganze Nacht durchging. Am dritten Tag endete das Nachbarschaftsfest mit dem „Schlichttag“. Hier wurden die Ausgaben des Festes verrechnet, bevor die Nachbarlade feierlich bis zum nächsten Jahr geschlossen wurde.
Der Nachbarvater eröffnete den Sitt-Tag mit einer Ansprache, dann reichten sich alle Nachbarn die Hände, um sich zu versöhnen und Streitigkeiten des vergangenen Jahres zu verzeihen. Die Nachbarlade wurde vom Nachbarvater geöffnet, und es wurde Gericht gehalten: Alle Einnahmen und Ausgaben des vergangenen Jahres wurden vorgerechnet, die Strafen für jedes Vergehen vorgelesen und die Strafgelder eingesammelt.
Am Sitt-Tag wurde alle zwei oder drei Jahre ein neuer Nachbarvater gewählt. Frauen waren zum Sitt-Tag bis 1990 nicht zugelassen. Sie waren für das Bereiten der Mahlzeiten zuständig.
Der Pfarrer war beim eigentlichen „Richten“ nicht dabei. Er wurde von den Nachbarschaften aber meist zum Essen am ersten oder zweiten Tag geladen. Der Pfarrer musste bei dieser Gelegenheit von den Nachbarn, die meist nicht mehr ganz nüchtern waren, so manche „harte Wahrheit“ einstecken, berichtet der Reichesdorfer Kurator Johann Schaas. Er sah die Gemeinde aber so einmal „unverstellt“, so wie sie war, „wenn sie nicht im schwarzen Gehrock in der Kirche saß“(siehe Interview J. Schaas „Über den Sitt- und Schlichttag).
Im Rahmen des Sitt-Tags wurde auch der Fasching gefeiert. In Kostümen oder ohne spielten die Nachbarn sich untereinander manch derbe Späße – für diese Tage hatte man Narrenfreiheit (siehe Interview „Über Strafen und trockene Schnäpse“).
Der Sitt-Tag heute
Heute findet der Sitt-Tag übergemeindlich statt, immer noch am Marientag und meist in Birthälm, weil hier die Gemeinde am größten ist. Es wird nicht mehr „gerichtet und geschlichtet“. Der Sitt-Tag ist zu einem nachbarschaftlichen Gemeindefest geworden – die übergemeindlichen Nachbarn treffen sich zu einem Abendessen beiTanzmusik, es wird der im vergangenen Jahr gestorbenen Nachbarn gedacht und berichtet, was sich im vergangenen Jahr in den Gemeinden zugetragen hat.
(StandMai 2010, Julia Jürgens)