Nachbarschaft

Die Nachbarschaft ist die wohl wichtigste soziale Institution, die die Siebenbürger Sachsen im 12. Jahrhundert aus der Urheimat mitbrachten und in Siebenbürgen etablierten. Während Nachbarschaften in Deutschland längst nicht mehr existieren, hat sich diese lokale Solidargemeinschaft in Siebenbürgen bis heute mancherorts erhalten. Natürlich kam es im Laufe der Jahrhunderte zu Veränderungen und Verlusten mancher ursprünglichen Funktionen. Doch einige Gemeinden halten an der Nachbarschaft fest, auch wenn sie manchmal kaum noch 20 Mitglieder haben. Auch die dazugehörigen Traditionen wie der Richt- oder Sittag oder der Fasching werden gepflegt. Das Nachbarschaftsmodell wurde in vielen Dörfern Siebenbürgens von Rumänen, Ungarn und Roma übernommen und besteht in Varianten bis heute. Die ausgewanderten Sachsen haben die Nachbarschaft wiederum mit nach Deutschland genommen und pflegen sie dort als überregionale Gemeinschaft.

Welche Bedeutung und Funktion haben die bestehenden Nachbarschaften in Siebenbürgen heute noch? Das lässt sich nicht ohne einen Rückblick auf ihre historische Bedeutung erklären.

Geschichte und Funktionen der Nachbarschaft bis 1989

Die Nachbarschaft, das bedeutete, wie Stephan Ludwig Roth Anfang des 19.Jahrhunderts schrieb, Folgendes: „Die aus einem Brunnen tranken, Brot aus einem Ofen aßen, die die Nachhut füreinander hielten, die sich ihre Wohnhäuser aus gemeinschaftlicher Kraft aufrichteten, in Krankheit und Unglücksfällen den Willen von Anverwandten hatten, (…) die sich einander ihre Gräber gruben, eigenhändig ihreToten auf den Gottesacker trugen und ihre letzte traurige Ehre der Leichenbegleitung als eine Gemeinsamkeit erwiesen – beimTränenbrote der Geschiedenen Verdienste rühmten und aus nachbarlichem Vermögen und Beruf für Witwen und Waisen sorgten....“

Die Nachbarn war weit mehr als nach der Wortbedeutung nebeneinander wohnende Menschen. Sie bildeten eine Gemeinschaft, die ihre Mitglieder zu gegenseitigen Hilfeleistungen "von der Geburt bis zum Grab" verpflichtete, zur Instandhaltung des Gemeindegutes wie Brunnen und Straßen und zur Einhaltung der sittlichen und religiösen Ordnung. Einer Nachbarschaft anzugehören war Pflicht, man wuchs in sie gewissermaßen hinein. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg blieb sie Angehörigen anderer Ethnien verschlossen. Die Nachbarschaft kann als Kern der sächsischen Gemeinschaft betrachtet werden; mit ihr verschafften sich die Siebenbürger Sachsen eine Institution, mittels der sie ihre Identität, Tradition und Kultur über die Jahrhunderte gegen alle politischen und ethnischen Umwälzungen abschotteten und bewahren konnten. Deshalb wird an ihr auch heute, trotz eingeschränkter Handlungsmöglichkeiten, noch festgehalten.

Jede Nachbarschaft hatte damals und hat heute noch ihre eigenen Statuten, in denen die Pflichten und die Rechte der Nachbarschaft festgeschrieben sind. Das Oberhaupt, der Nachbarvater wurde und wird demokratisch gewählt. Jeder Nachbar war verpflichtet, einer Aufforderung zur Hilfe (beim Hausbau, in Krankheitsfällen, bei Hochzeiten und Beerdigungen) jederzeit nachzukommen, erschien er nicht, musste er einen Ersatz schicken oder am jährlichen Richttag Strafe zahlen. Dafür konnte er selbst diese Hilfe in Anspruch nehmen. Neben der gegenseitigen Unterstützung gab es jedoch auch eine gegenseitige Kontrolle. Bis in die Familie und die Ehe hinein sorgte die Nachbarschaft dafür, dass Anstand und Ordnung herrschten (beim Streit von Ehepartnern, der bis auf die Straße zu hören war, musste Strafe gezahlt werden, ebenso war z.B. Fluchen in der Öffentlichkeit ein Strafbestand). Auch über das religiöse Leben wachte die Nachbarschaft. 

Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Nachbarschaft eine weltliche Einrichtung, die dem Ortsrichter und Gemeindeamt unterstellt war. Mit dem Fall Siebenbürgens an Ungarn vollzog sich ein Wandel: Die Nachbarschaften verloren ihre öffentlich-rechtliche Funktion und wurden direkt der Kirche unterstellt. Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg hatte es sich dann eingespielt, dass die Nachbarschaften quasi als Auftraggeber des Presbyteriums agierten. Die Aufgaben verlagerten sich langsam nur noch darauf, was im Rahmen der Kirchengemeinde anfiel. Nach 1945 rückten die Instandhaltung der Kirchengebäude, die Bewahrung der Bräuche und die Mithilfe bei Begräbnissen in den Mittelpunkt. Das sind bis heute die Hauptaufgaben der Nachbarschaft.

Struktur

Die sächsischen Dörfer waren nach Straßen in meist vier Nachbarschaften gegliedert, es gab bei langen Straßen noch einmal Unterteilungen, so dass auch bis zu 13 Nachbarschaften pro Ort vorkamen (z.B. in Neppendorf oder Reichesdorf).

Der Nachbarschaft stand der Nachbarvater gemeinsam mit dem Jungnachbarvater vor. Ersterer wurde dem Alter nach bestimmt, so dass jeder einmal an die Reihe kam. Der Nachbarvater hatte die Aufgabe, Nachbarschaftssitzungen einzuberufen, die Hilfeleistungen zu organisieren, zwischen der Kirche und dem Gemeindevorstand bzw. dem Stadt-Magistrat zu vermitteln, Konflikte zwischen Nachbarn zu lösenund für die Wahrung der Traditionen zu sorgen.

Die Rechte und Pflichten der Nachbarschaft waren zuerst mündlich tradiert, später schriftlich fixierte strenge Statuten, sie wurden in der hölzernen Nachbar(schafts)lade aufbewahrt, die heute nur noch im Museum zu betrachten sind.

 Alte Nachbarschaftslade in Birthälm (Foto: J. Jürgens) 

Nachbarschaften heute

Mit der Auswanderung nach 1989 haben sich die meisten Nachbarschaften selbst aufgelöst. In den Städten, mit Ausnahme Schäßburg, gab es schon vor 89 keine Nachbarschaften mehr, in den Dörfern brachte der Wegzug von etwa 90 % der sächsischen Bevölkerung den Zusammenbruch der Gemeinschaft. In einigen Orten haben sich die Nachbarschaften jedoch unter den veränderten Bedingungen neu zusammengefunden. Im Burzenland, wo die Gemeinden häufig noch über 100 Personen zählen, gibt es noch viele Nachbarschaften, zum Beispiel in Petersberg, in Wolkendorf (sogar zwei), in Neustadt oder Honigberg. Auch im Alten Land haben sich in kleineren Orten Nachbarschaften erhalten, zum Beispiel in Alzen, Probstdorf oder Agnetheln, auch im Unterwald gibt es in Petersdorf sogar noch drei Nachbarschaften.Die offensichtlichsten Veränderungen der Nachbarschaft sind folgende:

  • Zusammenlegung der Nachbarschaften: Aus vier oder mehr Nachbarschaften wurden eine, nur in wenigen Fällen gibt es noch zwei oder mehr Nachbarschaften
  • Nachbarschaft und Kirchengemeinde sind deckungsgleich. Dies ist heute in den meisten Fällen so.
  • Die Nachbarschaft kann heute auch übergemeindlich sein (wie im Falle der Nachbarschaft Reichesdorf-Scharosch-Birthälm-Großkopisch-Elisabethstadt.)
  • Die Nachbarschaft ist heute nicht mehr ethnisch homogen. Das erscheint heute selbstverständlich, war vor dem Zweiten Weltkrieg aber noch undenkbar.
Alle gemeinschaftlichen Arbeiten der Nachbarschaft sind heute freiwillig. Die Bestrafung ist mit wenigen Ausnahmen nicht mehr zeitgemäß (nur in Ausnahmen, wie in der Schäßburger Hermann-Oberth-Nachbarschaft werden noch Strafen am Richttag eingesammelt)

Funktionen einer Nachbarschaft heute

Die noch bestehenden Nachbarschaften führen teilweise im Rahmen der Kirchengemeinde noch gemeinschaftliche Arbeiten aus, meist solche, die zur Instandhaltung des Kirchenensembles Kirche, Pfarrhaus, Friedhof, Schule gehören. Gegenseitige Hilfeleistungen beim Bau von Häusern, Hilfe bei Krankheit und so weiter sind keine Selbstverständlichkeit mehr und geschehen nur in Einzelfällen.


Zur Kernaufgabe der Nachbarschaft ist heute die Begräbnishilfe geworden. Der letzte Ehrendienst, den die Nachbarn sich gegenseitig erweisen, ist auch zum letzten Dienst der Nachbarschaften geworden. 

Beim Richttag der Schäßburger Hermann-Oberth-Nachbarschaft vom 9. Februar 2009 merkte der damalige Nachbarvater Wilhelm Fabini dies kritisch an und verwies darauf, dass früher die Hilfeleistung zu Lebzeiten im Vordergrund stand. Aber, so heißt es im Rechenschaftsbericht: „..die gegenseitige Hilfeleistung, einst Hauptfunktion der Nachbarschaft, ist heute kaum noch möglich. Das hohe Alter vieler Mitglieder ist ein Grund, die räumliche Streuung über das ganze Dorf- bzw. Stadtgebiet ein anderer. Es fehlen schlicht Informationen über eventuelle Nöte der Nachbarn. Oft kommt man nur noch zum Richttag zusammen“.


Wilhelm Fabini, sieht zwei Stärken der Nachbarschaft, die sie ausüben und ausbauen könnte: Ihre soziale Funktion, die in Schäßburg mit einem „Sozialfonds“ gestützt wird, in den alle Nachbarschaften einzahlen und als „Bindeglied und Vermittler zwischen örtlichen Behörden (Kirche, Bürgermeisteramt) und den Familien“.

Nachtrag: 

Unter welchen Bedingungen bleibt eine Nachbarschaft bestehen? Ab wann ist eine Nachbarschaft keine Nachbarschaft mehr? Welches sind die Kriterien? Diese Fragen fand ich bei meinen Recherchen schwer zu beantworten. Es ist nicht allein die Zahl der Mitglieder, denn es gibt heute Gemeinden mit unter 25 Seelen wie Probstdorf, die noch eine Nachbarschaft haben und es gibt große Gemeinden mit über 100 Seelen wie Malmkrog oder Michelsberg, die keine mehr haben. Es ist auch nicht die Abhaltung des Richttages, denn es gibt Gemeinden, die ihn nicht mehr halten, aber sich trotzdem noch als Nachbarschaft verstehen. Andererseits gibt es Gemeinden, die den Richttag feiern, aber als Nachbarschaft kaum mehr in Aktion treten. Es scheint, die Nachbarschaft ist heute auch eine Frage der Selbstdefinition.

Ich kam auch in Orte, die offiziell keine Nachbarschaft mehr haben, wie in Birthälm. Zum verabredeten Termin kam der Kurator Karl Weinrich zu spät, weil er beim Dachdecken des Nachbarhauses mitgeholfen hatte. Unentgeltlich und in seinen Augen als Selbstverständlichkeit. Das sei hier noch so, sagte der Kurator, wenn man sieht, der Nachbar macht sein Haus neu, dann kommen vier, fünf Mann vorbei, egal ob Rumänen oder Sachsen. Es ist vielleicht machmal auch der Geist der Nachbarschaft, der die eigentliche Institution überdauert.

(Stand September 2010, aufgezeichnet Julia Jürgens)