Nachbarschaft in Schäßburg

In Schäßburg haben sich nach 1989 die wohl letzten städtischen Nachbarschaften in Siebenbürgen erhalten. Derzeit gibt es noch zwei, die Hermann-Oberth-Nachbarschaft, die 62 Mitglieder hat und die Obere-Baiergasse-Nachbarschaft mit rund 20 Mitgliedern. Beide Nachbarschaften sind Konglomerate mehrerer Nachbarschaften, die sich zusammengeschlossen haben, als sie zu wenig Mitglieder wurden. Zwei Nachbarschaften sind es heute von ehemals 13, die es bis 1990 gab (im Jahr 1906 wurden noch 20 gezählt). 

Zu den Hauptaufgaben der Nachbarschaften in Schäßburg gehört heute die Begräbnishilfe. Jeder Nachbar bis 70 Jahre hat die Pflicht, an Beerdigungen innerhalb der Nachbarschaft teilzunehmen. Dies stellt für Berufstätige heute ein Problem dar, wenn die Beerdigungen in die Arbeitszeit fallen.
 Jeder, der dem nachbarschaftlichen Dienst des letzten Geleits nicht nachkommen kann (Männer über 70 Jahre, alleinstehende Frauen), müssen eine Begräbnissteuer entrichten, die auch "Heben und Legen" genannt wird.  Seit 1998 haben alle Schäßburger Nachbarschaften gemeinsam zudem einen Fond gegründet, die "Allgemeine Begräbnishilfe", aus der die Trauerfamilie eine finanzielle Unterstützung erhält.

Im Februar wird von beiden Nachbarschaften noch in jedem Jahr Richttag gehalten. Dort wird der Bericht zum abgelaufenen Jahr vom Nachbarvater, dem Schriftführer und Kassierer verlesen. Die Statuten werden jedes Jahr neu verlesen und das Einverständnis aller eingefordert. Alle zwei Jahre wird nach dem traditonellen Rotationsprinzip ein Nachbarvater gewählt (aus gesundheitlichen oder sprachlichen Gründen kann sich der Nachbarvater aus seinem Amt "freikaufen"). In der Hermann-Oberth-Nachbarschaft wird noch Strafe eingesammelt für das Nicht-Erscheinen bei Begräbnissen. Nur Krankheit oder Abwesenheit aus der Ortschaft ist eine Entschuldigung. Schickt man keinen Ersatzmann, ist es Pflicht, den Jungältesten in Kenntnis zu setzen, damit dieser weiß, ob genug Männer da sein werden, um den Sarg zu Grabe zu tragen. Die Zehntmänner jeder Nachbarschaft haben noch heute die Aufgabe, die Nachbarn über ein Begräbnis zu informieren (heute allerdings nicht mehr per Nachbarzeichen, sondern per Telefon). Beim Richttag diesen Jahres, an dem ich anwesend sein durfte, sandte der Nachbarvater den dringenden Appell, weiterhin die "Ehrenpflicht" einzuhalten. Im Jahr 2009 sei es zu oft vorgekommen, dass Fremde für den Grabdienst hätten angesprochen werden müssen.

Nach dem Richten wird heute nicht mehr beim Nachbarvater, sondern im Restaurant oder in der Mensa der Bergschule gefeiert. Zu Essen gibt es die traditionelle Tokane (Gulasch). 

In Schäßburg existieren auch Frauen-Nachbarschaften, die unabhängig von den zwei Männer-Nachbarschaften organisiert sind. Ich bekam keine feste Aussage, wieviele Frauen-Nachbarschaften heute noch aktiv sind, zwischen 5 und 10 sind es wohl. Wie bei den Männern haben sich auch hier mehrere Nachbarschaften Anfang der 90er Jahre zusammengeschlossen. Die Frauen-Nachbarschaften kümmern sich mehr um soziale Belange innerhalb der Kirche, z.B. packen sie an Weihnachten die Päckchen für die Kinder und Alten. Männer- und Frauen-Nachbarschaften halten ihre Richttage getrennt, zu den Richttagen der Männer sind traditionell bis heute nur die Männer eingeladen. Der vorige Nachbarvater der Hermann-Oberth-Nachbarschaft Wilhelm Fabini brachte beim diesjährigen Richttag den Vorschlag ein, künftig zum auch die Nachbarmütter einzuladen, weil seiner Meinung nach die Frauen mehr über die sozialen Probleme der Familien Bescheid wissen, ein Feld, in dem die Nachbarschaft sich zukünftig mehr einsetzen könnte. Sein Vorschlag erreichte jedoch keine Mehrheit, zu mit aller Macht wird am Überlieferten festgehalten.


Laut einer Schätzung von Wilhelm Fabini sind heute in der Hermann-Oberth-Nachbarschaft etwa 20 %  Mitglieder anderer Nationalität als deutsch. 
Ungarn und Rumänen organisieren sich in Schäßburg ebenfalls in eigenen Nachbarschaften, die nach dem Vorbild der sächsischen Nachbarschaft organisiert sind und wie diese als Hauptaufgabe die nachbarschaftliche Hilfe beim Begräbnis haben. Laut einem Artikel von Hannelore Baier in der ADZ aus dem Jahr 2002 konnten sich bis zu diesem Datum in Schäßburg keine Bestattungsunternehmen etablieren, weil die Schäßburger Nachbarschaften sich noch darum kümmern.


Im Kreuzgang der Schäßburger Kirche ist von Wilhelm Fabini ein kleines Museum der Nachbarschaften eingerichtet, mit ausgestellten Gegenständen der alten Nachbarladen, alten Richttags-Protokollen und Bekanntmachungen der Nachbarschaft, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. 

In Deutschland gibt es unter den ausgewanderten Schäßburgern drei Nachbarschaften, in Heilbronn, München und in Nürnberg.

(Stand Februar 2010, J. Jürgens)