In Agnetheln gab es bis vor dem Zweiten Weltkrieg fünf große Nachbarschaften, die Weiher- und Grodengasse, die Mittelgasse, die Niedergasse, die Neugasse, die Obergasse. Damals lebten noch 4.000 Sachsen in Agnetheln. Alle Männer ab 18 Jahren wurden automatisch Mitglied der Nachbarschaften.
Im Jahr 1989 zählte die evangelische Gemeinde noch 2.220 Seelen, vom Jahr 1990 auf 1991 wanderten dann auf einen Schlag 1.600 Sachsen aus, und die Nachbarschaften schrumpften allmählich auf zwei, in den folgenden Jahren auf eine einzige Nachbarschaft zusammen. Bis 1990 gab es für alle Nachbarn zwischen 18 – 60 Jahren noch die Pflicht, bei Gemeindearbeiten an der Kirche, am Pfarrhaus, an der Schule zu helfen und allen Beerdigungen innerhalb der Gemeinschaft beizuwohnen. Bei jeder Pflichtarbeit, z.B. beim Grabausheben bei einer Beerdigung bekam man eine Karte, einen „Bonus“. Am Ende des Jahres am Richttag wurde abgerechnet. Musste man z.B. acht Karten für Pflichteinstätze haben, hatte aber nur sechs, musste man für die fehlenden zwei Abzahlungen leisten.
Heute sind in der einzigen verbliebenen Nachbarschaft noch 50 Männer, 69 Männer hat die evangelische Gemeinde insgesamt noch. Zu einer Beerdigung zu kommen ist immer noch Ehrenpflicht. Es wird auch noch kleinere Arbeiten an der Kirche gerufen. Strafzahlungen gibt es jedoch nicht mehr. Als Tradition der Nachbarschaft hat sich erhalten, dass wie früher zur Benachrichtigung eines Ereignisses ein "Läufer" herumgeschickt wird. Es gab immer vier Läufer pro Nachbarschaft, die die Aufgabe hatten, im Falle einer dringenden Nachricht alle zu verständigen. Heute haben die Läufer lange Strecken zu überwinden, denn die verbliebenen Nachbarn wohnen nicht mehr alle auf einer Gasse, sondern verstreut im ganzen Ort.
Eine andere Tradition ist der Richttag, den die Agnethler Nachbarschaft hält immer noch jährlich am letzten Sonntag im Februar hält. Nach dem "Richten", das heute eher einer Besprechung gleicht, gibt es, auch wie früher, beim Nachbarvater zu Hause ein Essen.
Die Nachbarladen der aufgelösten Nachbarschaften mitsamt Nachbarzeichen und der Richttagsprotokolle liegen auf dem Dachboden des Agnethler Pfarrhauses gut verwahrt. Mit Hilfe von EU-Geldern ist laut dem Agnethler Pfarrer Reinhart Boltres geplant, in den nächsten Jahren ein kleines Museum anzulegen.
Michael Krauss, Jahrgang 1928, Kurator in Agnetheln, im Gespräch über die Nachbarschaften im Februar 2010. Er hat alle Funktionen in Nachbarschaft und Kirche durchlaufen: Jungnachbarvater, Altnachbarvater, kirchlicher Gemeindevertreter, Presbyter, Finanzkirchvater, und nun ist er seit 17 Jahren Kurator, im 5. Mandat. Es gibt keinen Jüngeren, der sein Amt übernehmen würde.
(Oktober 2010, J. Jürgens)