Von ehemals neun Nachbarschaften, die es bis 1990 in Keisd gab, gibt es heute nur noch eine. Wie in anderen Orten auch, entspricht die evangelische Gemeinde weitgehend der Nachbarschaft. Alle Seelen der Gemeinde sind sich heute also auch Nachbarn. Die Nachbarschaft ruft zwei- oder dreimal jährlich noch zu gemeinschaftlichen Arbeiten am Friedhof oder der Kirche, Frauen wie Männer. In der Karwoche zum Beispiel wird zum Putzen des Friedhofs und der Kirche gerufen. Jede Familie ist verpflichtet, ein Mitglied zu schicken. Das Gleiche gilt für Beerdigungen. Im Fall eines Begräbnis übernimmt die Nachbarschaft in Keisd noch alle nötigen Handlungen.
Die Nachbarschaft hält traditionell jährlich an einem Wochenende vor Aschermittwoch ihren Richttag ab. Im Unterschied zu früher nehmen heute nicht mehr nur die Männer, sondern auch die Frauen daran teil. Der Richttag beginnt mit einem Gottesdienst, dann werden Aktivitäten des vergangenen und des kommenden Jahres besprochen. Der Nachbarvater beginnt seine Rede immer noch mit der traditionellen Formel, Gleichnung genannt, die früher vor allen wichtigen Bekanntmachungen und Reden vorangestellt war. "Ich hoffe, ich hätt' auch zwei Worte zu Euch zu reden. Erstens können wir auch dem lieben Gott danken, dem wir alle miteinander zu danken schuldig sind. Den treubarmherzigen Gott wollen wir auch in der Zukunft anrufen, der aller unser Vater und Fürsorger sein möge, er möge einem jeden frommen Christen nur dasjenige Teilchen zukommen lassen, was ihm an Leib und Seele nützlich und erträglich sein möge..."
Wer bei Arbeiten des vergangenen Jahres gefehlt hat, muss theoretisch am Richttag wie früher in die Nachbarkasse eine Strafe einzahlen. Im Wortlaut zur Einladung zum Richttag hieß es früher ausdrücklich: "Er (jeder) soll mitbringen, was er schuldig ist und es auch den Witwen sagen." Dies ist aber zu einer freiwilligen Spende geworden: Die älteren Nachbarn, die die Pflichten der Nachbarn von früher kennen, zahlen ohne Aufforderung eine Strafgebühr, die jüngeren, die dies nicht tun, werden dazu nicht mehr angehalten. Strafen sind nicht mehr zeitgemäß, sie würden nur abschrecken, sich weiter in der Nachbarschaft einzusetzen, meint der aktuelle Nachbarvater, Johannes Schaaser. Nach dem Richten wird im Gemeindesaal gefeiert, das gemeinsame Essen, Hühnersuppe, Reis und Braten mit Stachelbeersoße, besorgen Frauen aus der Gemeinde.
Die Nachbarlade wird heute nicht mehr gebraucht, es reicht ein Heft, in dem die Liste der Mitglieder und die "Evidenzen", also die Namen der Nachbarn, die bei Gemeinschaftsaktionen oder Begräbnissen anwesend sind, sowie die Ein- und Ausgaben aufgeschrieben werden.
Johannes Schaaser ist seit 20 Jahren Nachbarvater. Obwohl eigentlich alle zwei Jahre gemäß eines Rotationsprinzips der Nachbarvater wechseln müsste, bleibt Herr Schaaser im Amt. Es findet sich niemand, der diese Aufgabe übernehmen will, auch dies ist eben keine Pflicht mehr. Vielleicht wird das Amt irgendwann der Sohn vom Vater übernehmen, er lebt in Keisd und hat schon Interesse geäußert, die Tradition weiterzuführen.
(Stand Oktober 2010, Julia Jürgens)